EINFÜHRUNG in das Werk Franz von Saalfelds anläßlich der Ausstellungseröffnung
in der Galerie Hutten-Ostermayer zu Wackenheim am 14, Juni 1996

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die heute zu eröffnende Ausstellung ist ungewöhnlich und dies in mehrfacher Hinsicht. Sie verdient deshalb vielleicht auch eine ungewöhnliche Einführung.

Wenn Menschen eine Kunstausstellung besuchen, dann tun sie dies in einer bestimmten Erwartungshaltung. Man kennt den Künstler und erhofft sich nun gesteigerten Genuß durch seine neuen Werke oder man orientiert sich zuvor an möglichen stilistischen Einstufungen des Gezeigten, sei es nun expressionistische oder barocke Kunst, sei es Pop Art oder Eat Art usw.
Diese Art von Schubladen-Charakterisierung gibt uns eine gewisse Sicherheit, von der aus wir dann wohlgemut zum vergnüglichen Schauen und Vergleichen oder in die analytische Wertung oder zur erkenntnisreichen Entschlüsselung von Symbolen und Gestaltstrukturen übergehen.

Wie ist es hier bei dieser Ausstellung? Wie geht die einerseits absichernde, andererseits gesprächstimulierende ästhetische Einordnung vor sich?
Gehören die Werke zur Moderne? Handelt es sich etwa um Pop Art?
Zweifellos beginnt hier alsbald unsere Verunsicherung durch das Ungewöhnliche, das Unerwartete, mit dem wir beim Betrachten dieser Bilder konfrontiert werden.. Das Stichwort 'Retardierung', das wir der Einladung entnehmen, läßt Gedankenverbindungen zu einer Kunst entstehen, die erst in diesem Jahrhundert, besonders aber seit ca. 30 Jahren die Aufmerksamkeit der kulturellen Öffentlichkeit gefunden hat. Es ist dies das Phänomen des Kunstschaffens von 'retardierten', d.h. intellektuell eingeschränkten, aber künstlerisch begabten, Persönlichkeiten.
Verallgemeinernd wird auch zuweilen von einer Kunst der Außenseiter gesprochen, was aber als Kennzeichnung unbefriedigend ist, da hier undifferenziert verschiedenartige Kunstäußerungen nivellierend verbunden werden. Außerdem kann dieser Begriff des "Außenseiters" abwertend aufgefaßt werden. Weiterhin könnte man fragen 'Wer gehört den eigentlich noch zu den Außenseitern?' und ist nicht jeder schöpferische Künstler gewissermaßen ein Außenseiter?

Obschon man nun natürlich nicht eigentlich von einer Kunst der Außenseiter im Gegensatz zu einer Kunst der Innenseiter sprechen kann, da die Bildende Kunst begrifflich und dem Wesen nach unteilbar ist, gibt es natürlich in der Geschichte der Kunst stilistische und inhaltliche Unterschiede in großer Vielfalt, zum Vergnügen der kulturellen Öffentlichkeit wie auch zugunsten des Erkenntnisdranges der Betrachter.

Es gibt nun ein einigendes Band für die künstlerischen Äußerungen der intellektuell eingeschränkten Menschen. Es ist dies, ganz allgemein gesehen, der Bezug zur Kunst der Kinder und damit verbunden eine Bevorzugung der Flächigkeit der Darstellung. Mit anderen Worten diese Künstler verzichten auf Verkürzung und auf Zentralperspektive, wenn möglich auch auf Überschneidungen. Weitere Prinzipien, die sich in ihren Bildern niederschlagen sind: die topologische Ortsdarstellung ("Umklappen"), das Prinzip des Pars-pro-toto, die Vorliebe für die kanonische Formen, größtmögliche Gestaltinformation für das Mischprofil etc.
Wenn wir nun die Bilder Franz von Saalfelds anschauen, dann sehen wir, daß er nicht in diese Kategorie paßt, sein Werk als nicht unserer Erwartung entspricht. Und dies ist wahrlich ungewöhnlich. Wir erkennen zentralperspektivische Lösungsansätze, ja man könnte fast meinen, diese Darstellungsweise sei überhaupt das zentrale Wesensmerkmal seiner Kunst. Immer wieder überrascht uns die perspektivische Durchdringung der Fläche. Mir scheint, hier gelingt es Franz von Saalfeld gerade durch die Verwendung einer wohl eher mechanisch wirkenden, ja fast unwirklichen Perspektive, eine bemerkenswerte symbolische Aussage zu machen. Trotz der Menschaufreihungen, die aus einsamen und isolierten Marionetten zu bestehen scheinen, spiegelt sich hier eine öde und unwirkliche Weilt, in die sich unser Planet im 20. Jahrhundert zumindest in Teilen verwandelt hat.

Dies ist für den Betrachter bedrückend. Man möchte gerne die Augen davor schließen, doch glücklicherweise erschöpft sich Franz von Saatfelds Werk nicht in diesen strengen, fast leblosen Bildern, es gibt Landschaften und andere, von der Farbe geprägte Werke, die wieder einen ganz anderen, nämlich einen eher zärtlichen Umgang mit der Natur andeuten. Dieser Gegensatz in den inhaltlichen Aussagen, die ihr Pendant in entsprechenden Gestaltungsverfahren finden, ist wiederum ungewöhnlich. Zusammenfassend sei nochmals darauf hingewiesen, daß in den hier gezeigten Bildern drei Elemente zum Vorschein kommen, die typisch für Franz von Saatfelds Werk zu sein scheinen. Da ist einmal eine erstaunliche Fähigkeit, die Zentralperspektive als Ausdrucksmittel einzusetzen.
Hier unterscheidet sich seine Kunst geradezu grundsätzlich von der Kunst der Kinder oder anderer "Außenseitergruppen". Zentralisierte Perspektive stellt ein Phänomen dar, das kulturabhängig ist und dessen Konstruktionsregeln im allgemeinen erst mühsam erlernt werden müssen. (Ich erinnere mich, daß es an den bayerischen Gymnasien Kurse in "Perspektive und darstellender Geometrie" gab.)

Des weiteren beschäftigt sich Franz von Saalfeld auch mit der Landschaftsmalerei im engeren Sinne. Auch diese Vorliebe und die dabei zum Tragen kommende Fähigkeiten sind ungewöhnlich. Zuguterletzt wird der Eindruck des Ungewöhnlichen auch noch dadurch verstärkt, daß der Künstler sich bevorzugt mit der doch recht schwierigen Aquarelltechnik beschäftigt.

Wie hat sich nun diese Kunst entwickelt? Welche Vorbilder und anregende Einflüsse haben seine Begabung zum Blühen gebracht? Eine Frage, die wir natürlich bei allen Künstlern stellen können. Hier treffen wir bei Franz von Saalfeld wiederum einen nicht alltäglichen Tatbestand, der die Entwicklung dieser stetig tätigen Künstlerpersönlichkeit mitbestimmt hat. Zusammen mit dem zeichnenden Vater und der ebenfalls zeichnenden Schwester, d. h. in der stark künstlerisch geprägten familiären Umgebung fand er die nötige Sicherheit, sein Talent auch ohne unterrichtliche oder schulische Einflußnahme zur Entfaltung zu bringen.
Dazu muß man bemerken, daß die große Mehrzahl der behinderten Künstler ihre bildnerischen Kräfte eher in den Werkstätten als in einer Familie entwickeln. Daß ein qualitätvolles Werk dagegen in der Familie entsteht, ist eher die Ausnahme. Gleichgültig, wo nun das Werk letztendlich geschaffen wird, ohne die verständnisvolle einfühlsame Anwesenheit einer kunstverständigen Bezugsperson kann die künstlerische Begabung kaum die nötige Kontinuität und Ausdauer finden, denn nur so kann sie zu optimaler Entfaltung kommen.

Lassen Sie mich ein Fazit ziehen:
Wir sehen hier ein wahrlich beeindruckendes Werk, das uns, bei aller Widersprüchlichkeit und Rätselhaftigkeit, ermuntert, diesen Fundus an unerwarteten Gestalt- und Farbkonstellationen in unsere Kunstwahrnehmung einzubeziehen. In anderen Worten: Begeben wir uns auf die Spurensuche um dem vielfaltig Ungewöhnlichen, das sich in dieser Ausstellung präsentiert, nachzuspüren. Wenn wir uns dabei in die Bilder vertiefen, dann werden sich ästhetisches Vergnügen und Erkenntnisgewinnung miteinander verbinden und wir werden dann beglückt und bereichert diesen Raum verlassen.

Max Kläger